Wenn ich mein Smartphone zücke und einige Menschen um mich herum erstaunte oder mitleidige Blicke auf das Ding werfen, das ich mittlerweile täglich zur Hand nehme, brauche ich meistens einen Moment, um mir der Tatsache bewusst zu werden, dass der Anblick des von vielen Rissen durchzogenen und notdürftig mit Tesafilm verarzteten Geräts für sie noch nicht zur Gewohnheit geworden ist. Es mag merkwürdig klingen, aber um ehrlich zu sein, stört mich der Zustand meines Handys nicht. Möglicherweise gibt es sogar einen Teil von mir, dem es so gefällt. Im Fall meines Handys könnte das damit zusammenhängen, dass dieser Zustand für mich ein äußeres Zeichen meiner inneren zwiespältigen Einstellung zu ihm ist – ein trotziges und irrationales „Nein! Du bestimmst mein Leben nicht, auch wenn ich dich gebrauche.“ Man könntewahrscheinlich sogar von einer Sichtbarwerdung meiner Einstellung sprechen, denn die an Sadismus grenzende Nachlässigkeit, die mir von Beobachtern im Umgang mit meinem Handy attestiert wurde, lässt sich leicht als Grund für sein desolates Aussehen ausmachen.
Hier soll aber nicht der Eindruck erweckt werden, ich würde mein Smartphone nicht mögen. Im Gegenteil, ich nutze es nun schon beinahe 4 Jahre und wünschte, das für immer tun zu können. Ähnlich geht es mir mit vielen anderen Dingen: ein etwas durchlöcherten Rucksack, ein noch nicht ganz bis zur Unleserlichkeit abgenutzter Würfel, eine beschmierte Hose – viele meiner Besitztümer erwecken gerade durch ihren angeschlagenen Zustand besonders meine Sympathie. Den ersten Grund meine ich nun schon ausgemacht zu haben: Das Setzen in die richtige Perspektive. Keines dieser Dinge hat eine Bedeutung, nicht wirklich. Deshalb empfinde ich, wie seltsam das auch klingen mag, manchmal eine gewisse Befriedigung beim Betrachten der verschiedenen Blessuren dieser Gegenstände. Doch die Tatsache, dass ich sie teilweise mehr mag als ihre gut erhaltenen Gegenstücke, lässt sich wahrscheinlich besser durch andere Gründe erklären. Da wäre der ganz pragmatische Gedanke, dass ich bei etwas, das schon kaputt ist, nicht darauf achten muss, es nicht kaputt zu machen. Doch wichtiger ist die andere Gründeansammlung, die sich in dem Satz zusammenfassen lässt, dass jedes kaputte Ding einzigartig ist. Zwar spreche ich hier nur von ein bisschen kaputten Gegenständen, deren Funktion nur leicht bis gar nicht eingeschränkt ist, doch auch bei diesen gilt: Jeder Kratzer erzählt eine Geschichte. Ich will nicht leugnen, dass diese meist nicht besonders aufregend ist und doch erinnern mich die Löcher in meinem Wanderrucksack an meinen Hamster, der in einem fragwürdigen Entscheidungsprozess offenbar zu dem Schluss kam, mein Rucksack wäre eine gute neue Wohnung – nach einer Renovierung, versteht sich. Die abgeblätterten Zahlen meines Würfels zeugen von unzähligen geschlagenen Schlachten und selbst die Risse meines Handys kommen mir wie ehrbare Kampfverletzungen vor, nachdem es einmal eindrucksvoll in einem ehrlichen 1 vs1 Match eine Glasflasche zertrümmerte. Dadurch werden diese Fließbandprodukte zu meinen Sachen, sie bekommen einen eigenen Charakter. Sie sind nicht perfekt – und das ist gut so. Möglicherweise kann ich mich dadurch sogar zu einem gewissen Grad mit ihnen identifizieren.
Menschen sind ebenfalls nicht perfekt, aber eben dadurch so unglaublich schön. Alle Ecken und Kanten gehören dazu und vielleicht ist das der Grund dafür, dass der Gedanke an hunderte und tausende identische Gegenstände, die vom Fließband rollen, in mir eine diffuse Beunruhigung auslöst. Ich bin zu wenig Soziologe, um die „Wegwerfgesellschaft“, in der der Gang zum Mülleimer kürzer sein zu scheint als der zum Werkzeugkasten, in Beziehung setzen zu wollen mit der „Leistungsgesellschaft“, in der Menschen zu oft auf ihre Fähigkeit, in der Arbeitswelt zu funktionieren, reduziert werden. Ich möchte nur gegen das Gefühl protestieren, dass alles und jeder genormt zu sein scheint – oder als nicht brauchbar angesehen wird. Wenn wir noch nicht mal unseren Gegenständen kleine Schrammen verzeihen, wie können wir dann miteinander umgehen?
Natürlich sollte man mehr als vorsichtig mit dieser Analogie sein – Menschen sind eben nicht vergleichbar mit Gegenständen, sie müssen keinen Zweck erfüllen, um wertvoll zu sein. Während Gegenstände, die keine Funktion mehr haben und nicht repariert werden können, getrost fachgerecht entsorgt werden dürfen und sollten, gibt es keinen Menschen, der zu „kaputt“ wäre, um Liebe, Wertschätzung und einen angesehenen Platz in der Gesellschaft zu verdienen.
Gott, ich danke dir, dass ich mit meinen Zweifeln und Unzulänglichkeiten zu dir kommen kann.
Bitte hilf mir, zu akzeptieren, dass ich nicht perfekt sein kann und dass ich nicht alles allein schaffe.
Hilf mir, mit Liebe und Verständnis auf meine Mitmenschen und ihre Fehler zu schauen, mit Ihnen mitzufühlen, wenn sie durch schwere Zeiten gehen und niemals auf sie hinabzusehen.
Danke, dass du uns alle unperfekt und doch jeden einzelnen Menschen perfekt erschaffen hast.
Danke, dass du mich und alle Menschen unendlich liebst trotz unserer Fehler und dass du uns helfen kannst und willst, wenn wir durch das Leben Schaden genommen haben.
Amen
2 Gedanken zu „Von kaputten Dingen – Morgenandacht in der Karwoche von Leo“
Wenn ich diese Andacht lese auf meinem etwas vermackelten Laptop, neben mir eine Gitarre mit einigen Kratzern, muss ich dir voll zustimmen. Die Wanderhose, die mit weißem Segelmachergarn geflickt ist, erzählt von einer Kletterei in den schwedischen Schären. Meine Kamera trägt noch Kratzer und Schlamm aus der Arktis. Ohne das wären sie doch nur anonyme Produkte einer Baureihe.
Ich kenne keinen Menschen, der nicht auch im Laufe seines Lebens den ein oder anderen Kratzer im wörtlichen wie übertragenen Sinne mitgenommen hätte. Aber viele sind mir gerade durch diese kleinen Macken sehr lieb geworden.
Danke dir für diese sehr persönliche Andacht, die mir aus der Seele spricht.
Vielen Dank für die schöne Andacht. Beim Lesen kam mir ein Lied von Lina Maly in den Sinn, dass ich sehr schön finde…. https://www.youtube.com/watch?v=riH-Nd5VbrQ