Hier findet ihr die Andacht von unserer V Lea zum Thema der heutigen Bibelarbeit: Sexualmoral in den Paulusbriefen.
Die Menge jubelt. Die Bühne ist fast vollständig dunkel, nur ein Lichtkegel erleuchtet die Silhouette eines Menschen. Die Kamera fährt weiter an die Bühne heran, während gefühlvolle Streichermusik einsetzt. Lange Haare, eine Wespentaille und eine große glitzernde Kleiderschleppe werden sichtbar. Eine Stimme setzt ein, vielleicht etwas ungewöhnlich tief für eine Frau, aber nicht unangenehm. Das Publikum jubelt weiter, die Kamera nähert sich, das Licht wird stärker. Dann erblickt der Zuschauer eine Frau mit langen dichten Wimpern, viel Schminke, viel Lipgloss und – einem Bart.
Sechs Jahre ist diese Szene nun her. 2014 gewann der Travestiekünstler Thomas Neuwirth als seine Kunstfigur Conchita Wurst, die weder ganz Männlein noch Weiblein zu sein scheint, den Eurovision-Song-Contest. Doch nicht erst seitdem, sondern auch schon davor, und ganz besonders heute, hält die Gesellschaft die Diskussion, was eigentlich spezifisch männlich, spezifisch weiblich, was „normal“ oder „abnormal“ ist, die Gesellschaft in Atem. Die Frage der Geschlechter, der sexuellen Identitäten, ist eine der großen Fragen unserer Zeit – was sich nicht nur in unserer Sprache zeigt.
Doch wie stehen Kirche, Bibel und Christentum eigentlich dazu? Um diese Frage jetzt zu beantworten – wenn man das überhaupt tun könnte! – fehlt mir schlichtweg der Platz, aber ich möchte ein paar Anregungen geben, auf die ich in der letzten Zeit oder der „Recherche“ zu diesem Thema gestoßen bin und die uns auch in der folgenden Bibelarbeit vielleicht ein wenig helfen können:
Homophobes Gedankengut scheint besonders stark in evangelikalen Kreisen oder sog. Ex-Gay-Bewegungen vertreten zu sein. Diese bieten oftmals Konversionstherapien an. Ziel hierbei ist, homosexuelle Neigungen „abzutrainieren“ und eine Heterosexualität zu „erreichen“. Auf Internetseiten wie der Organisation Wüstenstrom e.V., die solche hochkritisierten und von der Wissenschaft abgelehnten Therapien anbietet, findet man zum Beispiel Angebote wie die „Reise zum Mannsein“ oder die „Entdeckungsreise Frausein“ – die über ganze zwei Jahre gehen sollen.
Dann gibt es da z.B. LiMarie, Deutschlands wohl erfolgreichste Christfluencerin, die u.a. Videos dreht, in denen sie gegen Sex vor der Ehe oder das Schauen von Pornos „predigt“. In einem Interview mit PULS sagt sie Folgendes: “Also ich persönlich finde einfach, Mann und Frau passen super zusammen, fertig. Und ja klar, die Bibel sagt halt schon, dass Homosexuelle – dass Gott das nicht mag, und dass er Mann und Frau geschaffen hat. Also das vertrete ich schon auch.”
Die Plattform Youtube nutzen aber auch andere christliche Größen. Die beiden Pfarrerinnern Stefanie und Ellen Radtke leben und arbeiten in Hildesheim und sind – ganz nebenbei – auch ein lesbisches Ehepaar. Vor kurzem haben sie gemeinsam ein Kind bekommen und betreiben den Youtube-Kanal „Anders Amen“. In einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur sagte Stefanie Radtke: „Mein Glaube ist ja ein Geschenk. Das habe ich mir nicht ausgesucht, ob ich glaube oder nicht, würde ich behaupten. Dann kam die Sexualität mit dazu. Ich finde, da ist kein Widerspruch. Dafür machen wir ja unseren YouTube-Kanal […], dass wir genau das zeigen: dass sexuelle Orientierung und Kirche überhaupt kein Problem miteinander haben.“
Auch der Papst hat den Ruf der Zeit gehört. In einem Dokumentarfilm, der im Oktober diesen Jahres veröffentlicht wurde, befürwortete er die rechtliche Anerkennung homosexueller Partnerschaften. “Sie sind Kinder Gottes und haben das Recht auf eine Familie. Niemand sollte wegen so etwas ausgeschlossen oder unglücklich werden”, so Franziskus. Noch 2010 äußerte er sich als Kardinal ganz anders zur Öffnung der Ehe, indem der sie als „zerstörerische Attacke auf Gottes Plan” bezeichnete.
Ich könnte ewig so weiter machen, aber am besten lässt sich die Situation vielleicht mit einem Ausspruch aus einem Interview mit der Bibelwissenschaftlerin Ilse Müllner beschreiben. In diesem Interview äußerte Müllner sich zum Neutestamentler und Jesuiten Ansgar Wucherpfennig, der 2016 die biblische Verurteilung der Homosexualität als “missverständlich formulierte Stellen” bezeichnete und dafür vom Vatikan gemaßregelt wurde. Sie sagt, dass die Sicht auf die Homosexualität viel mit der Auslegung der Bibel zu tun hat:
„[Es ist ein Problem,] dass Zitate scheinbar wortwörtlich gelesen und ohne jeden Kontext benutzt werden. Ich finde es alarmierend, wenn einzelne biblische Sätze aus einem komplexen System herausgerissen und in der Sexualethik angewandt werden. Warum findet das nicht auch gleichermaßen in der Wirtschaftsethik statt? Es gibt klare Aussagen zum Schuldenerlass in der Bibel bei Dtn 15. Warum sagt da niemand: Das müssen wir wortwörtlich nehmen und den Menschen nach sieben Jahren die Schulden erlassen? […]
Biblische Worte und Texte werden gerne als verpflichtend angesehen, wenn sie das bestätigen, was man selbst für gut hält. Tun sie das nicht, werden sie als Zeugnisse einer vergangenen Lebenswelt abgebucht. Die Aufgabe einer christlichen Kirche und ihrer Theologie ist immer, ins Gespräch mit den Texten der Bibel zu gehen und das in Sensibilität für die jeweils gegenwärtige gesellschaftliche Situation zu tun. Die Bibel ist ein Kanon aus unterschiedlichen Schriften, in denen es Spannungen und Widersprüche gibt. Diese Vielfalt ist gewollt und spiegelt die Vielfalt der Menschen auch unserer Zeit.“
Und genau das wollen wir heute tun: ins Gespräch mit der Bibel gehen – und dabei hoffentlich nicht nur Bibelzitate aus ihrem Kontext reißen!